Et mundus, hoc est homo
               
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Et mundus, hoc est homo

Für Hartmut Kugler

Martin Warnke, Universität Lüneburg

da ist der tisch auf ihm die brille es riecht es rauscht da tu ich was dazu, klar da ist der tisch. ich denke mir einen menschen der geht mit vielen plakaten herum und mit zetteln legt eins auf den tisch darauf steht tisch und auf den boden: boden und auf jedes einzelne schreibt was es sei und auf alles schreibt er: alles, das gibt dann eine ordentliche ordnung,
dann schreibt er auf die zettel. zettel (auf dem tisch geschrieben ist).

Wiener (1985: xvi f.)

Inhaltsangabe

Beschrieben wird eine bedeutende Karte des hohen Mittelalters, ihre Herkunft, ihr Gehalt, ihre Struktur, einige Aspekte des von ihr verkörperten Weltbildes sowie ihre Dokumentation mit digitalen Medien.

Summary

The paper gives a description of a map from the High Middle Ages, its origins, contents and structure as well as some aspects of the underlying weltbild and its documentation by means of digital media.

1. Präambulum

... die Beschreibungen der Phänomenologen haben uns gelehrt, daß wir nicht in einem homogenen und leeren Raum leben, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist.

Foucault (1991: 67)

Wären Karten nur das, was sie üblicherweise vorgeben zu sein, nämlich um möglichst getreue Abbildung einer Region bemühte Dokumente, die handlicher sind als das Abgebildete selbst, dann wären sie wohl auch nur für professionellen Gebrauch interessant, für Landvermesser etwa, für Oberförster oder für Kartensemiotiker 1 . Natürlich ist es aber nicht so. Es geht für viele Menschen eine große Faszination aus von diesen Projektionen unserer sphärischen irdischen Heimstatt über das flache Welt-Bild der Karte in unsere runden Schädel - und umgekehrt von unserer Imagination auf eine Imago mundi . Überhaupt sind Karten nur möglich, weil wir Vorstellungen von der Welt externalisieren wollen, und da wird's spannend, wo wir sie vergnüglich erschauernd schauen, wo wir uns schon sehr wundern müssen über die Einbildungen anderer oder darüber, wo die Welt sich sträubt zu sein, wie wir es ihr auf unseren Karten vor-schreiben, sei es in den Romanen Karl Mays, auf Meßtischblättern oder als Mental maps .

Um ein sehr verwunderliches Exemplar der Gattung Karte geht es in diesem Aufsatz, um eine Schönheit, die es nicht mehr gibt, um eine Klosterdame, die Ebstorferin 2 , die überhaupt alles in sich zu vereinigen suchte und es nicht für unschicklich hielt, dabei sehr verschiedene Arten der Imagination auf sich zu versammeln. Die Ebstorfer Weltkarte (Abb. 1) , entstanden im 13. Jahrhundert, mit 13 Quadratmetern bespielter Fläche die größte ihres Schlages, im Zweiten Weltkrieg verbrannt, beständig wiederbelebt von ihren leidenschaftlichen Verehrern, die nicht aufhören wollen herauszufinden, was sie uns aus welchen Gründen zeigt oder verbirgt, posthum in Pixel zerlegt und erneut montiert.

Die Ebstorfer Weltkarte als eine Landkarte oder einen Atlas nach heutiger Nomenklatur bezeichnen zu wollen, wäre unsinnig. Sie ist sowohl Momentaufnahme der politischen Verhältnisse des Jahres 1239 3 wie auch Verkünderin christlicher Heilslehre 10 , Bilderbuch von Flora und Fauna 5 (Abb. 2) , aber auch schon Vorläuferin von Satellitenbildern 6 und Hypertexten 7 . Damit nicht genug und mehr an anderer Stelle. 8

2. Typus

Mappa heißt Abbild, daher Mappa mundi so viel wie Abbild der Welt. Dieses hat zuerst Julius Caesar erarbeitet mit Hilfe von Kundschaftern, die er über die ganze Erde aussandte. Regionen, Provinzen, Inseln, Städte, Küsten, Sümpfe, Meeresflächen, Gebirge, Flüsse: alles hat er zu einer Gesamtübersicht auf einem Blatt zusammengestellt. Den Betrachtern bringt das einen nicht geringen Nutzen, den Reisenden gibt es die Richtung und eine anschauliche Vorstellung von den Dingen am Wege.

Ebstorfer Weltkarte, oben rechts

Die Ebstorfer Weltkarte gehört zum Typ der Mappae mundi , mittelalterliche Weltdarstellungen, die alles am Orient orientieren und deshalb den Osten obenan stellen. Sie teilen die bekannte Ökumene nach dem sogenannten T-Schema auf: die obere Hälfte der Welt macht Asien aus, unten links liegt Europa und unten rechts füllt Afrika das letzte Viertel aus. Gewässer wie das Mittelmeer und das Schwarze Meer teilen die Kontinente voneinander. Die Erde ist kreisrund dargestellt, und zusammen genommen ergibt dies das T-Rad-Schema, das diesen Kartentypus kennzeichnet.

Ob die Ebstorferin in erster Linie überhaupt als Karte oder eher als Text einzuordnen sei, ist strittig 9 , schon wegen des ziemlich umfänglichen Textkorpus, das auf ihr versammelt ist: kurze Fragmente, meist Benennungen, bezeichnen viele der Bildsignaturen auf dem Kartenrund; längere Legenden, hauptsächlich der Etymologie des Isidorus von Sevilla 10 zu verdanken, beschreiben vor allem die Tier- und Pflanzenwelt. Sie füllen die vier Zwikkel an den Ecken des Gevierts, das 3,5 m x 3,5 m mißt. Insgesamt zählt man knapp 1.400 Textstellen, verfaßt in mittelalterlichem Latein. Weitere Textvorlagen sind die Bibel und der Alexanderroman, womit sich aber die Reihe der mittelalterlichen und antiken Quellen nicht erschöpft. 11 Schon allein diese Textfülle, die keineswegs in erster Linie geographischen Zwecken dient, sondern vielmehr als die explizite Verbalisierung eines mittelalterlichen Welt-Bildes aufzufassen ist, macht augenfällig, daß es sich hier nicht um eine bloße Ab-Bildung handelt, sondern um eine grandiose Projektionsfläche menschlicher Ein-Bildungskraft.

Dabei obwaltet allerorts Körpersymbolik: das himmlische Jerusalem steht habituell bei diesem Kartentyp genau in Mittelposition, am Nabel der Welt (Abb. 3) . Wenn bei den meisten Exemplaren dieses Typs Christus die Welt so umfaßt, daß er eins mit ihr wird, zerreißt das Erdenrund der Ebstorfkarte aufgrund ihrer schieren Größe geradezu seinen Leib, so daß ganz im Osten, oben, das Haupt des Erlösers (Abb. 4) erscheint, weit abgeschlagen im tiefen Westen, an der Meerenge von Gibraltar, die Füße zu sehen sind, während im hohen Norden, am linken Rand der Erde, die rechte Hand mit dem Stigma und rechts im tiefen Süden seine Linke dargestellt ist. Armin Wolf sieht die Welt aufgefaßt wie eine Oblate: 12 die Hostie als Leib Christi; 13 oder, wie Gottfried Wilhelm Leibniz Gervasius von Tilbury kolportiert: » Et mundus, hoc est homo. « 14

Die kunsthistorische Forschung hat die Tradition solcher Welt-Leib-Isomorphien nachgezeichnet, etwa anhand der Visionen der Hildegard von Bingen, 15 die ungefähr zur selben Zeit wie die Ebstorferin entstanden. Natürlich kommt auch unvermeidlich Leonardos Proportionsstudie in den Sinn, die den nackten Renaissance-Mann auf den Zirkel und das Quadrat schlägt und so die Metaphorik des Leibs als Welt ins Verhältnismäßig-Rationale zurückgeholt hat. Daß die Kette solcher Projektionen damit kein Ende fand, beweist etwa die seltsame Landschafts-Malerei Salvador Dalís, die mit Körpern und Landschaften ihr Vexier-Spiel treibt.

Die Gleichsetzung von Welt und Leib, wie sie die Ebstorfer Weltkarte mit dem kostbarsten aller Leiber vorführt, scheint überhaupt ein unentrinnbares Thema zu sein. Arno Schmidt, selbst auf/in Schritt & Tritt von Leibesfülle & -reiz seiner Heldinnen in der (seiner?) Norddeutschen Tiefebene verfolgt & geplagt, weist seinen Dichter-Kollegen nach, daß sie bei scheinbar harmloser Landschaftsbeschreibung immer nur an das Eine denken. »Man lege sich nun, ganz getreulich=einfältig nach May 's Beschreibung eine mappa mundi dieser Sternscheibe seiner Neuen Welt an...:«, so leitet Schmidt die Aufdeckung (homo-)erotischer Schichten eines Textes von Karl May ein, 16 um, zeichnerisch interpretierend, zu einem vertikal zweigeteilten Rund zu gelangen, in dessen präziser (Leibes-) Mitte man statt des himmlischen Jerusalem mit dem gerade auferstehenden Christus einen (O-Ton May und Schmidt) »steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen« verortet, »eine regelrechte Hintern=Abbildung a posteriori, (wie sie ebenphalls im Finnegans Wake des James Joyce erscheint [...])«. 17 Wem das zu weit hergeholt scheint, lese Schmidts »Julia, oder die Gemälde«; hiernach ist kein Zweifel mehr möglich an der notorischen Lust der »Wort-Metze« - und wohl nicht nur ihrer - an der Projektion der Körper auf die ganze Welt.

3. Genesis

It appears to me that this mystery is considered insoluble, for the very reason which should cause it to be regarded as easy of solution (S. 394).

Coincidences, in general, are great stumbling-blocks in the way of that class of thinkers who have been educated to know nothing of the theory of probabilities.

Poe (1902: 394, 401)

Die Frage nach Urheberschaft und Entstehungsjahr der Ebstorfkarte ist, wenn überhaupt, nur in einem Indizienprozeß zu klären, denn sie ist weder signiert noch datiert. Die Spanne der vorgeschlagenen Entstehungsjahre reicht von 1208 bis 1373, 18 wobei die unterschiedlichen Schlüsselloch-Perspektiven auf die diversen Aspekte - wie etwa die Ikonographie, die verwendete Handschrift, den politisch-geographischen Gehalt, die Heraldik - zu je eigenen Datierungen führen. Wie bei einem anständigen Mordfall ist die Fülle der Tatsachen so groß, ihre Struktur so inkonsistent, daß alle Hypothesen auf ihre Weise wohlbegründet sind. Zur Frage der Autorenschaft gehen die Meinungen ebenfalls weit auseinander. Die einen nehmen Gervasius von Tilbury (etwa 1152 bis 1239 19 ) als den Urheber an. Andere trauen dies den Mönchen norddeutscher Klöster zu. Weil die Verführerin, die - auf der Ebstorfkarte sogar bärtige - Schlange, beiden Ureltern im Paradies je einen Apfel gibt (Abb. 5) , in die auch beide zu beißen im Begriffe sind, könnten auch Frauen an der Konzeption der Karte mitgewirkt haben: 20 schließlich wird Eva damit ja erheblich von der Anzettelung zur Erbsünde entlastet.

Nur eines scheint klar: die Ebstorferin muß im Norddeutschen entstanden sein. Anders läßt sich die enorme Präzision der Gegend um Lüneburg, gleichsam als Blick durch die Lupe, wodurch Lüneburg (und Braunschweig) ebenso groß wie Rom, Jerusalem oder (man verzeihe dies einem Autor aus eben dieser Gegend) gar das Paradies verzeichnet, nicht erklären. In der Tat verzerrt die Bedeutungsperspektive auf Norddeutschland die Darstellung der ganzen Welt extrem. Wegen der stark überproportionalen Germania-Partie ist das Mittelmeer so weit in Richtung Süden verzerrt und vergrößert, daß die Ägäis-Inseln Kreta, Delos, Carpatos und alle neun Äolischen Inseln nun wegen Platz-Überangebots sogar gleich zweimal verzeichnet sind. 21 So etwas geschieht natürlich nicht ohne triftigen Grund.

Armin Wolf 22 macht aus den Fragen nach Täter und Tatzeit einen veritablen Krimi, er abduziert 23 Zeit und Ort auf eine Weise, daß es Peirce, Poe oder Conan Doyle eine Freude gewesen wäre. Die Unwahrscheinlichkeit, die Entstehung der Karte wegen der Vielzahl von Zufälligkeiten überhaupt auf eine bestimmte Jahreszahl festmachen zu können, wird bei Wolf zur Lösung des Problems. Allein das Jahr 1239 erklärt zwanglos alle Seltsamkeiten ihrer Darstellung und ihres politisch-geographischen Gehalts, und unter schwerem Verdacht der Täterschaft steht der Ebstorfer Probst Gervasius - alias Gervasius von Tilbury. 24

Das Vorhandensein von fünfundsiebzig Orten speziell des römisch-deutschen Reiches, die Wolf auf der Ebstorfkarte ausmacht, und von solchen, die gerade nicht verzeichnet sind, bietet ihm den Schlüssel. Wolf nimmt zunächst an, die Karte sei während der Regierungszeit Herzog Ottos des Kindes entstanden, dem Herzog von Braunschweig und Lüneburg, also zwischen 1230 und 1250, einer gängigen vorläufigen Datierung. Die Residenzen seiner Verwandtschaft sind samt und sonders vorhanden, mit Ausnahme der Sitze der Wittelsbacher und der Zähringer, die bei Otto deshalb in Ungnade gefallen waren, weil sie nach seiner Macht und seinem Erbe - Braunschweig - griffen und ihn beinahe um beides gebracht hätten. Dieses Vorhandensein von fünfundsiebzig bestimmten weltlichen Orten sowie die Tatsache der Abwesenheit anderer ansonsten durchaus wichtiger Ortschaften paßt präzise auf die räumliche Verteilung der Verwandten Ottos des Kindes, und zwar nicht nur bezogen auf irgendeinen Abschnitt seiner Regierungszeit, sondern genau zum Jahr 1239 mit allen in diesem Jahr lebenden Familienangehörigen - bis auf die, die ihm politisch zu nahe getreten waren. Wolf macht dann noch die Probe aufs Exempel: keine andere Herrscherperiode liefert solche signifikanten Übereinstimmungen wie die des Jahres 1239.

Weitere Indizien sprechen für die Wolfsche Hypothese, wenn man sie nun noch um die Urheberschaft Gervasius von Tilburys anreichert. Das ikonographische Programm der Karte zeigt Braunschweig, kaum überraschend, mit dem Löwen (Abb. 6) , ganz ungewöhnlicherweise aber auch Rom (Abb. 7) , statt die Kaiserstadt mit der Wölfin zu zieren. All dies läßt sich nun deuten als eine zeitgenössische Propaganda, die Otto das Kind für die römisch-deutsche Kaiserkrone vorschlägt, was auch tatsächlich im Gespräch und im Interesse Gervasius' gewesen war. Weitere, nicht minder atemberaubende, Deutungen ergeben sich aus den Hypothesen 1239 und Gervasius von Tilbury, etwa eine Aufforderung zum Kreuzzug, herauszulesen aus den exklusiv bekreuzten Bildsignaturen zu Ebstorf, Lüneburg, Köln, Aachen, Konstantinopel und Jerusalem.

Natürlich bleibt dies in der Gemeinde der Forscher nicht unumstritten. Vor allem ikonographische und paläographische Argumente sprechen für eine spätere Ausführung. So deutet sich eine Synthese an, die die Konzeption auf das Jahr 1239 und die Ausführung, die möglicherweise sogar eine frühe Kopie eines verlorenen Vorbildes sein könnte, auf das Ende des 13. Jahrhunderts legt.

4. Heterotopia

Asien heißt nach einer Königin desselben Namens. Seine erste Region von Osten her ist das Paradies, ein lieblicher und rundum angenehmer Ort, für Menschen nicht bewohnbar und mit einer himmelhohen Feuerwand umgeben. Darin befindet sich das Holz des Lebens, d.h. ein Baum, wer von dessen Frucht ißt, altert nicht und stirbt nie.

Ebstorfer Weltkarte, oben in der Mitte, direkt beim Paradies

Ein faszinierender Aspekt solcher Welt-Bilder wie der Ebstorfer Weltkarte liegt im Nebeneinander verschiedener Ebenen, wie etwa der Geographie und der Theologie, der politischen Verhältnisse, Flora und Fauna, Erzählungen zu berühmten Persönlichkeiten wie Alexander dem Großen oder der Kartographie und Ethnologie, wie wir Heutigen nach der uns vertrauten Ein-Ordnung der Dinge in Fakultäten und Disziplinen diese Ebenen nennen würden. Dieses Nebeneinander war eine durchaus legitime Ordnungsstruktur des Mittelalters, wobei Ordnung selbst, also eine je spezifische Relation zwischen Einzeldingen, sich durch das kennzeichnende Merkmal der Ähnlichkeit zu erkennen gibt.

»Die convenientia : ist eine mit dem Raum in der Form des unmittelbar Benachbarten verbundene Ähnlichkeit. Sie gehört zur Ordnung der Konjunktion und der Anpassung. [...] So bildet durch die Verkettung der Ähnlichkeit und des Raumes, durch die Kraft dieser Konvenienz, die das Ähnliche in Nachbarschaft rückt und die nahe beieinander liegenden Dinge assimiliert, die Welt eine Kette mit sich selbst,« so beschreibt Michel Foucault (1974: 47-48) einen charakteristischen Zug mittelalterlicher Wissensordnung. 25 In unserem Falle wird sie durch die wechselseitig zu bestimmende Lage der Bildsignaturen sehr hübsch augenfällig. Die Einheit des Leibes Christi mit der ganzen Welt etwa, eine Nachbarschaft, wie sie nicht unmittelbarer sein könnte, fällt unter diesen Zug der Zeit, ebenso wie die kurios anmutende Verortung eines utopischen Ortes wie dem des Paradieses zwischen China und Indien, und dies wohl nicht nur im übertragenen Sinne, sondern durchaus gewußt als zwar tatsächlich dort, aber wegen der »himmelhohen Feuerwand« (Abb. 5) nicht zu erreichen: Eintritt verboten wegen Sündenfalls!

Was hier auf den ersten Blick aussehen mag wie geradezu kindliche Naivität der Früheren, ist wohl doch eben ein typisches Beispiel einer mittelalterlichen Wissensordnung des Nebeneinander, einer convenientia , von nach jetzigen Maßstäben vernünftigerweise sauber zu Trennendem, etwa in unsere Kategorien des Utopischen einerseits und des trotz aller Seltsamkeit doch Möglichen andererseits. Michel Foucault zu diesem Paar etwas anderer Orte, so wie wir Heutigen sie kennen und wissen:

Es gibt zum einen die Utopien. Die Utopien sind die Plazierungen ohne wirklichen Ort: die Plazierungen, die mit dem wirklichen Raum der Gesellschaft ein Verhältnis unmittelbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten. Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume.

Es gibt gleichfalls - und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation - wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien. (Foucault 1991: 68)

Das von wenigen Generationen vor uns durchlebte Zeitalter des Rationalismus zwingt uns zu wissen, daß Utopia ein Ort ist, der nicht nur sehr schwer zugänglich ist, sondern den es trotz unserer Sehnsucht nach ihm angeblich nicht gibt . Für die Unerträglichkeiten des Tatsächlichen haben wir nun nur die Heterotopien: die Illusionsheterotopien etwa in Form der Ferienanlagen oder anderer Freizeit-Enklaven (»Klein-Michel möchte aus dem Kinderparadies abgeholt werden!« erschallt es ganz paradox gelegentlich in »unmöglichen Möbelhäusern«) - aber auch die der Kehrseiten: die Abweichungsheterotopien: die Altersheime, Krankenhäuser, Friedhöfe, die Wegschließorte für Andersartige und Straffällige.

Auf der Ebstorfkarte gibt es am rechten Rand der Welt, in der Gegend, die wir heute Nord- und Zentral-Afrika nennen, solche Orte - ganze unselige Landstriche: »Es hat dort vielerlei unzugängliche Gebiete und darin unbekannte, unglaubliche Tiere und abartige Geschöpfe,« heißt es z.B. zu Äthiopien. Oder man kann Wesen erkennen, eingekerkert wie in Einzelhaft zwischen Gebirgszügen (Abb. 8) , die, vom Heile Christi unerlöst, an schrecklichen Mißbildungen leiden. Es fehlen ihnen die Ohren oder die Zungen; andere haben gleich zwei Paar Augen im Gesicht oder »zusammengewachsene Münder mit dermaßen weit vorstehenden Lippen, daß sie sich damit gegen die Sonne schützen können,« und wieder andere, »die Artobatitae, pflegen beim Gehen vorüberzukippen« und »die Himantopedes bewegen sich immer wie Vierfüßer voran.« Es mag beruhigend gewesen sein, solche Erdenbewohner sehr weit weg von sich wähnen zu können.

Himmlische und höllische Orte waren noch auf derselben Erde wie die Menschen. Es wäre zwar unendlich beschwerlich und gefährlich gewesen, sie zu besuchen, doch kein Rationalismus der Moderne hat sie damals mit seiner symbolischen Ordnung durch Verbannung ins Reich des Unmöglichen als Kinderglauben denunziert.

5. Virtuality

Hat sie schon versucht anzurufen?
Nein.
Wird sie noch.
Rubin, sie ist tot. Schon eingeäschert.
Ich weiß, sagte er. Aber sie wird dich anrufen.

(Gibson 1990: 150f.)

Es ist so, daß den Medien, auch den technischen, die Geister erscheinen. 27 Die Photographie hat Verstorbene in Gestalt ihrer Aura fixiert, der Computer reproduziert verblichene Kunstwerke bitweise.

Unsere Versuche zum Thema des Computers als Medium jedenfalls 28 begannen mit der Ebstorferin, als es sie schon lange nicht mehr gab. Unserer virtuellen Zerteilung und Zusammensetzung ging Ähnliches mit ihr voraus, mit letalem Ende:

Nach Auffindung des Originals um das Jahr 1830 gaben die Klosterfrauen sie 1834 dem "Vaterländischen Archiv" und dem Historischen Verein in Hannover, und zwar zwecks Ausstellung, sachgemäßer Lagerung und später auch Herausgabe im Druck. Sie wurde dann schließlich zerteilt, auf Rahmen gespannt, photographiert und in ein Gestell gesteckt, das nicht wesentlich anders ausgesehen haben mag als heutige digitale Massenspeicher. Als das Kloster etwa ein Jahrhundert nach dessen Hergabe ihr Schmuckstück zurückforderte, wollten die Nazis spezielle Gesetze erlassen, die den rechtmäßigen Anspruch der Ebstorferinnen entkräftet hätten, um sie so nicht wieder zurückgeben zu müssen. Den unwürdigen Querelen, wer denn nun die Verfügungsgewalt über sie habe, entzog sich die große Ebstorferin in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 1943 durch Verbrennen im Bombenhagel der Alliierten, aufbewahrt im bombensicheren Gewölbe des Hannoverschen Staatsarchivs 29 .

Sie existiert seitdem nur noch in Reproduktion: nach den schwarzweißen Sommerbrodtschen Lichtdrucktafeln in halber Größe 30 sind Nachbildungen auf Pergament entstanden: drei hängen in Originalgröße im Kloster Ebstorf, im Museum für das Fürstentum Lüneburg und auf der Plassenburg in Kulmbach. Vor den beiden letztgenannten ist unsere Computerfassung installiert worden, in schwarzweiß beziehungsweise in Farbe, den Fortschritt der Technik nachzeichnend, als vorläufig letzte Fälschungen des untergegangenen Originals. Wenn die geneigten Leser nicht extra dort hingehen wollen, was sie aber der sehr schönen Pergament-Replikation wegen tun sollten, können sie auch eine Cyberspace-Version mittels ihres Web-Browsers auf ihren Rechnerschirm beschwö&endash;ren. 31

Was man dann sehen kann, ist ein Faksimile des Kartenbildes in einundachzig Segmenten, auf dem alle Textfragmente in Transkription und deutscher Übersetzung des Altgermanisten Hartmut Kugler 32 zu lesen sind, versehen mit einem Index und in effigie präsent wie nur je zuvor. Die Abbildungen und alle Textfragmente, die diesen Text begleiten, entstammen dieser digitalen Wiederauferstehung.

Daß mit einer Technologie, die die Ära des Buches als unbestrittenes Leitmedium beendet hat, wieder lesbar wird, was lange vor der Erfindung des Buchdrucks geschrieben wurde, ist kein Zufall. Die massenhafte Verbreitung des Buchs als Medium infolge der Gutenbergschen Erfindung prägte dem Diskurs die Struktur der verschriftlichten Rede auf, 33 einer Rede, die etwa in der (Vor-)Lesung auch tatsächlich stattfindet und beim leisen Lesen innerlich geschieht, jedenfalls eindeutig das geschriebene Dokument mit gesprochener Sprache verknüpft. Elektronische Dokumente - Hypertexte - ergeben keinen verbindlichen Lesefluß mehr. Man kann sie nicht vorlesen, was man übrigens auch bei den Comic Strips nicht kann, die gefährlich an der Buch- und Lesekultur nagen, wie besorgte Eltern immer wieder feststellen. Genau so ist es mit diesem wundervollen mittelalterlichen Cartoon auf Pergament bestellt, zu dem es nicht nur eine einzige isomorphe Rede gibt, sondern nur viele.

Besonders schön augen- und ohrenfällig wird dieser Sachverhalt, wenn man mehr als einer Führung im Kloster Ebstorf beiwohnt und den beredten Erzählungen zur Weltkarte lauscht, die so verschiedenartig ausfallen, wie es die Klosterdamen selbst sind.

6. Apparatus

[1] Die weibliche Form ist im folgenden stets inbegriffen!

[2] Diese liebevolle Bezeichnung verdanken wir m. W. Hartmut Kugler.

[3] Wolf, A.: "Ikonologie der Ebstorfer Weltkarte und politische Situation des Jahres 1239. Zum Weltbild des Gervasius von Tilbury am welfischen Hofe", in [ 4 ], S. 54-116.

[4] Kugler, H. (Hrsg.) (1991): Ein Weltbild vor Columbus - Die Ebstorfer Weltkarte . Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft mbH.

[5] Ruberg, U.: "Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik, in [ 4 ], S. 319-346.

[6] Clausberg, K.: "Scheibe, Rad, Zifferblatt. Grenzübergänge zwischen Weltkarten und Weltbildern", in [ 4 ], S. 260-313.

[7] Warnke, M. (1990): "Das Thema ist die ganze Welt: Hypertext im Museum", in: Gloor, P.A. und Streitz, N.A. (Hrsg.): Hypertext und Hypermedia. Informatik-Fachberichte 249 , 268-277. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag.

[8] Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes findet man in [ 4 ].

[9] Michael, E.: "Das wiederentdeckte Monument - Erforschung der Ebstorfer Weltkarte, Entstehungsgeschichte und Gestalt ihrer Nachbildungen", in [ 4 ], S. 9-22.

[10] Kugler, H. (1987): "Die Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter." Zeitschrift für deutsches Altertum 116.1: 1-29.

[11] Kugler, H.: "Abschreibfehler. Zur Quellenproblematik der Ebstorfer Weltkarte", in [ 4 ], S. 347-366.

[12] Natürlich drängt sich dem moderneren inneren Auge auch das Bild eines globalen Hamburgers auf.

[13] Wolf, A.: "Ikonologie der Ebstorfer Weltkarte und politische Situation des Jahres 1239. Zum Weltbild des Gervasius von Tilbury am welfischen Hofe", in [ 4 ], S. 54-116.

[14] »Und die Welt, das ist der Mensch.« Leibniz, nach [ 13 ], Fußnote 188.

[15] Siehe etwa [ 6 ].

[16] "Ardistan und Dschinnistan" ist der Gegenstand der Untersuchung in Schmidts Analyse Karl Mayscher Erfolgsliteratur (in [ 17 ]).

[17] Schmidt, A. (1988): "Reiten, Reiten, Reiten... - Eine Massenwirkung und ihre Gründe", in: Zur Deutschen Literatur 3, 242-256. Zürich: Haffmanns Verlag, S. 246.

[18] In [ 3 ], S. 55.

[19] In [ 3 ], S. 94.

[20] Hahn-Woernle, B.: Die Ebstorfer Weltkarte . Kloster Ebstorf: ohne Jahresangabe, S. 52.

[21] Vgl. in [ 11 ], S. 362 f.

[22] Siehe [ 3 ].

[23] Siehe dazu etwa Sebeok, Thomas A. und Jean Umiker-Sebeok (1982): Du kennst meine Methode - Charles S. Peirce und Sherlock Holmes . Deutsch von Achim Eschbach, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hier wird unter Abduktion verstanden ein "einzigartiger Salat [...], dessen wichtigste Ingredienzen in seiner Grundlosigkeit, seiner Allgegenwart und seiner Zuverlässigkeit bestehen." (S. 32). Abduktion suche nach Theorien, Induktion nach Tatsachen.

[24] Siehe [ 3 ].

[25] Foucault, M. (1974): Die Ordnung der Dinge . Deutsch von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1966: Let mots et les choses .

[26] Foucault, M. (1991): "Andere Räume", in: Wentz, M. (Hrsg.): Stadt-Räume . Frankfurt/New York: Campus-Verlag, S. 65-72.

[27] Kittler, F. (1986): Grammophon Film Typewriter . Berlin: Brinkmann & Bose. S.21 ff.

[28] Vgl. [ 7 ] sowie Warnke, M. (1991): "A World in a Nutshell: The Project EbsKart", in: Marker, J. (Hrsg.): AHC '91: History and Computing . Odense, Odense University Press, Warnke, M. (1992): "Der Computer als Medium für selbstbestimmtes Lernen: ein Praxisbeispiel aus dem Museumsbereich" in: Computer & Unterricht , 2.5, 27-31, Warnke, M. (1997): "Digitale Schreibzeuge", in: Kohle, H. (Hrsg.): Kunstgeschichte digital . Berlin: Dietrich Reimer Verlag, S. 171-191.

[29] Brosius, D.: "Die Ebstorfer Weltkarte von 1830 bis 1943", in [ 4 ], S. 23-40.

[30] Sommerbrodt, E. (1891): Die Ebstorfer Weltkarte . Hannover, mit einem Atlas von 25 Lichtdrucktafeln.

[31] http://www.uni-lueneburg.de/EbsKart/

[32] Vielen Dank dafür noch einmal auch an dieser Stelle.

[33] Siehe dazu Illich, I. (1991): Im Weinberg des Textes - Als das Schriftbild der Moderne entstand . Deutsch von Ylva Eriksson-Kuchenbuch, Frankfurt am Main: Luchterhand. Dort beschreibt er (S. 101 ff), wie durch den Buchdruck das mönchische Lesen vom akademischen abgelöst wurde.

7. Literatur

Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge . Deutsch von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1966: Let mots et les choses .

Foucault, Michel (1991): "Andere Räume", in: Wentz, M. (Hrsg.): Stadt-Räume . Frankfurt/New York: Campus-Verlag, S. 65-72.

Gibson, William (1990): Der Wintermarkt, in: Cyberspace . S. 148-176. München: Heyne Verlag. 1986: The Winter Market .

Hahn-Woernle, Birgit: Die Ebstorfer Weltkarte . Kloster Ebstorf: ohne Jahresangabe, S. 52.

Illich, Ivan (1991): Im Weinberg des Textes - Als das Schriftbild der Moderne entstand . Deutsch von Ylva Eriksson-Kuchenbuch, Frankfurt am Main: Luchterhand.

Kittler, Friedrich (1986): Grammophon Film Typewriter . Berlin: Brinkmann & Bose. S.21 ff.

Kugler, Hartmut (1987): "Die Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter." Zeitschrift für deutsches Altertum 116.1: 1-29.

Kugler, Hartmut (Hrsg.) (1991): Ein Weltbild vor Columbus - Die Ebstorfer Weltkarte . Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft mbH.

Schmidt, Arno (1988): "Reiten, Reiten, Reiten... - Eine Massenwirkung und ihre Gründe", in: Zur Deutschen Literatur 3, 242-256. Zürich: Haffmanns Verlag. S. 246.

Sebeok, Thomas. A. und Jean Umiker-Sebeok (1982): Du kennst meine Methode - Charles S. Peirce und Sherlock Holmes. Deutsch von Achim Eschbach, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sommerbrodt, Ernst (1891): Die Ebstorfer Weltkarte . Hannover, mit einem Atlas von 25 Lichtdrucktafeln.

Warnke, Martin (1990): "Das Thema ist die ganze Welt: Hypertext im Museum", in: Gloor, P.A. und Streitz, N.A. (Hrsg.): Hypertext und Hypermedia. Informatik-Fachberichte 249 , 268-277. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag.

Warnke, Martin (1991): "A World in a Nutshell: The Project EbsKart", in: Marker, J. (Hrsg.): AHC '91: History and Computing . Odense, Odense University Press.

Warnke, Martin (1992): "Der Computer als Medium für selbstbestimmtes Lernen: ein Praxisbeispiel aus dem Museumsbereich" in: Computer & Unterricht , 2.5, 27-31.

Warnke, Martin (1997): "Digitale Schreibzeuge", in: Kohle, H. (Hrsg.): Kunstgeschichte digital . Berlin: Dietrich Reimer Verlag, S. 171-191.

Wiener, Oswald (1985), Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman . Reinbek: Rowohlt.

8. Imagines

Abb. 1 : Die Ebstorfer Weltkarte.

Abb. 2 : Ein kleines Bestiarium in Nordafrika.

 

Abb. 3 : Das himmlische Jerusalem am Nabel der Welt. Christus ist west-östlich orientiert.

 

Abb. 4 : Das Haupt Christi ganz im Osten.

 

Abb. 5 : Adam, Eva, die Schlange und der Baum der Erkenntnis im Paradies.

 

Abb. 6 : Braunschweig.

 

Abb. 7 : Rom.

 

Abb. 8 : Unerlöste Wesen im tiefen Süden, nord-südlich gelagert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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