|
|
Martin Warnke, Universität
Lüneburg da ist der tisch auf ihm
die brille es riecht es rauscht da tu ich was dazu, klar da ist der tisch. ich
denke mir einen menschen der geht mit vielen plakaten herum und mit zetteln legt
eins auf den tisch darauf steht tisch und auf den boden: boden und auf jedes
einzelne schreibt was es sei und auf alles schreibt er: alles, das gibt dann
eine ordentliche ordnung,
Beschrieben wird eine bedeutende
Karte des hohen Mittelalters, ihre Herkunft, ihr Gehalt, ihre Struktur, einige
Aspekte des von ihr verkörperten Weltbildes sowie ihre Dokumentation mit
digitalen Medien. The paper gives a description of
a map from the High Middle Ages, its origins, contents and structure as well as
some aspects of the underlying weltbild and its documentation by means
of digital media. ... die Beschreibungen der
Phänomenologen haben uns gelehrt, daß wir nicht in einem homogenen und leeren
Raum leben, sondern in einem Raum, der mit Qualitäten aufgeladen ist, der
vielleicht auch von Phantasmen bevölkert ist. Wären Karten nur das, was sie
üblicherweise vorgeben zu sein, nämlich um möglichst getreue Abbildung einer
Region bemühte Dokumente, die handlicher sind als das Abgebildete selbst, dann
wären sie wohl auch nur für professionellen Gebrauch interessant, für
Landvermesser etwa, für Oberförster oder für Kartensemiotiker
1 . Natürlich ist es aber nicht so. Es geht für viele
Menschen eine große Faszination aus von diesen Projektionen unserer sphärischen
irdischen Heimstatt über das flache Welt-Bild der Karte in unsere runden Schädel
- und umgekehrt von unserer Imagination auf eine Imago mundi .
Überhaupt sind Karten nur möglich, weil wir Vorstellungen von der Welt
externalisieren wollen, und da wird's spannend, wo wir sie vergnüglich
erschauernd schauen, wo wir uns schon sehr wundern müssen über die Einbildungen
anderer oder darüber, wo die Welt sich sträubt zu sein, wie wir es ihr auf
unseren Karten vor-schreiben, sei es in den Romanen Karl Mays, auf
Meßtischblättern oder als Mental maps . Um ein sehr verwunderliches
Exemplar der Gattung Karte geht es in diesem Aufsatz, um eine Schönheit, die es
nicht mehr gibt, um eine Klosterdame, die Ebstorferin
2 , die überhaupt alles in sich zu vereinigen suchte und
es nicht für unschicklich hielt, dabei sehr verschiedene Arten der Imagination
auf sich zu versammeln. Die Ebstorfer Weltkarte (Abb.
1) , entstanden im 13. Jahrhundert, mit 13 Quadratmetern bespielter
Fläche die größte ihres Schlages, im Zweiten Weltkrieg verbrannt, beständig
wiederbelebt von ihren leidenschaftlichen Verehrern, die nicht aufhören wollen
herauszufinden, was sie uns aus welchen Gründen zeigt oder verbirgt, posthum in
Pixel zerlegt und erneut montiert. Die Ebstorfer Weltkarte als eine
Landkarte oder einen Atlas nach heutiger Nomenklatur bezeichnen zu wollen, wäre
unsinnig. Sie ist sowohl Momentaufnahme der politischen Verhältnisse des Jahres
1239
3 wie auch Verkünderin christlicher Heilslehre
10 , Bilderbuch von Flora und Fauna
5 (Abb.
2) , aber auch schon Vorläuferin von Satellitenbildern
6 und Hypertexten
7 . Damit nicht genug und mehr an anderer Stelle.
8 Mappa heißt Abbild, daher Mappa
mundi so viel wie Abbild der Welt. Dieses hat zuerst Julius Caesar erarbeitet
mit Hilfe von Kundschaftern, die er über die ganze Erde aussandte. Regionen,
Provinzen, Inseln, Städte, Küsten, Sümpfe, Meeresflächen, Gebirge, Flüsse: alles
hat er zu einer Gesamtübersicht auf einem Blatt zusammengestellt. Den
Betrachtern bringt das einen nicht geringen Nutzen, den Reisenden gibt es die
Richtung und eine anschauliche Vorstellung von den Dingen am Wege. Ebstorfer
Weltkarte, oben rechts Die Ebstorfer Weltkarte gehört
zum Typ der Mappae mundi , mittelalterliche Weltdarstellungen, die
alles am Orient orientieren und deshalb den Osten obenan stellen. Sie teilen die
bekannte Ökumene nach dem sogenannten T-Schema auf: die obere Hälfte der Welt
macht Asien aus, unten links liegt Europa und unten rechts füllt Afrika das
letzte Viertel aus. Gewässer wie das Mittelmeer und das Schwarze Meer teilen die
Kontinente voneinander. Die Erde ist kreisrund dargestellt, und zusammen
genommen ergibt dies das T-Rad-Schema, das diesen Kartentypus
kennzeichnet. Ob die Ebstorferin in erster
Linie überhaupt als Karte oder eher als Text einzuordnen sei, ist strittig
9
, schon wegen des ziemlich umfänglichen Textkorpus, das auf ihr versammelt
ist: kurze Fragmente, meist Benennungen, bezeichnen viele der Bildsignaturen auf
dem Kartenrund; längere Legenden, hauptsächlich der Etymologie des Isidorus von
Sevilla
10 zu verdanken, beschreiben vor allem die Tier- und
Pflanzenwelt. Sie füllen die vier Zwikkel an den Ecken des Gevierts, das 3,5 m x
3,5 m mißt. Insgesamt zählt man knapp 1.400 Textstellen, verfaßt in
mittelalterlichem Latein. Weitere Textvorlagen sind die Bibel und der
Alexanderroman, womit sich aber die Reihe der mittelalterlichen und antiken
Quellen nicht erschöpft.
11 Schon allein diese Textfülle, die keineswegs in erster
Linie geographischen Zwecken dient, sondern vielmehr als die explizite
Verbalisierung eines mittelalterlichen Welt-Bildes aufzufassen ist, macht
augenfällig, daß es sich hier nicht um eine bloße Ab-Bildung handelt, sondern um
eine grandiose Projektionsfläche menschlicher Ein-Bildungskraft. Dabei obwaltet allerorts
Körpersymbolik: das himmlische Jerusalem steht habituell bei diesem Kartentyp
genau in Mittelposition, am Nabel der Welt (Abb.
3) . Wenn bei den meisten Exemplaren dieses Typs Christus die Welt
so umfaßt, daß er eins mit ihr wird, zerreißt das Erdenrund der Ebstorfkarte
aufgrund ihrer schieren Größe geradezu seinen Leib, so daß ganz im Osten, oben,
das Haupt des Erlösers (Abb.
4) erscheint, weit abgeschlagen im tiefen Westen, an der Meerenge
von Gibraltar, die Füße zu sehen sind, während im hohen Norden, am linken Rand
der Erde, die rechte Hand mit dem Stigma und rechts im tiefen Süden seine Linke
dargestellt ist. Armin Wolf sieht die Welt aufgefaßt wie eine Oblate:
12 die Hostie als Leib Christi;
13 oder, wie Gottfried Wilhelm Leibniz Gervasius von
Tilbury kolportiert: » Et mundus, hoc est homo. «
14 Die kunsthistorische Forschung
hat die Tradition solcher Welt-Leib-Isomorphien nachgezeichnet, etwa anhand der
Visionen der Hildegard von Bingen,
15 die ungefähr zur selben Zeit wie die Ebstorferin
entstanden. Natürlich kommt auch unvermeidlich Leonardos Proportionsstudie in
den Sinn, die den nackten Renaissance-Mann auf den Zirkel und das Quadrat
schlägt und so die Metaphorik des Leibs als Welt ins Verhältnismäßig-Rationale
zurückgeholt hat. Daß die Kette solcher Projektionen damit kein Ende fand,
beweist etwa die seltsame Landschafts-Malerei Salvador Dalís, die mit Körpern
und Landschaften ihr Vexier-Spiel treibt. Die Gleichsetzung von Welt und
Leib, wie sie die Ebstorfer Weltkarte mit dem kostbarsten aller Leiber vorführt,
scheint überhaupt ein unentrinnbares Thema zu sein. Arno Schmidt, selbst auf/in
Schritt & Tritt von Leibesfülle & -reiz seiner Heldinnen in der
(seiner?) Norddeutschen Tiefebene verfolgt & geplagt, weist seinen
Dichter-Kollegen nach, daß sie bei scheinbar harmloser Landschaftsbeschreibung
immer nur an das Eine denken. »Man lege sich nun, ganz getreulich=einfältig nach
May 's Beschreibung eine mappa mundi dieser Sternscheibe seiner Neuen
Welt an...:«, so leitet Schmidt die Aufdeckung (homo-)erotischer Schichten eines
Textes von Karl May ein,
16 um, zeichnerisch interpretierend, zu einem vertikal
zweigeteilten Rund zu gelangen, in dessen präziser (Leibes-) Mitte man statt des
himmlischen Jerusalem mit dem gerade auferstehenden Christus einen (O-Ton May
und Schmidt) »steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen« verortet, »eine
regelrechte Hintern=Abbildung a posteriori, (wie sie ebenphalls im Finnegans
Wake des James Joyce erscheint [...])«.
17 Wem das zu weit hergeholt scheint, lese Schmidts
»Julia, oder die Gemälde«; hiernach ist kein Zweifel mehr möglich an der
notorischen Lust der »Wort-Metze« - und wohl nicht nur ihrer - an der Projektion
der Körper auf die ganze Welt. It appears to me that this mystery
is considered insoluble, for the very reason which should cause it to be
regarded as easy of solution (S. 394). Coincidences, in general, are great
stumbling-blocks in the way of that class of thinkers who have been educated to
know nothing of the theory of probabilities. Die Frage nach Urheberschaft und
Entstehungsjahr der Ebstorfkarte ist, wenn überhaupt, nur in einem
Indizienprozeß zu klären, denn sie ist weder signiert noch datiert. Die Spanne
der vorgeschlagenen Entstehungsjahre reicht von 1208 bis 1373,
18 wobei die unterschiedlichen Schlüsselloch-Perspektiven
auf die diversen Aspekte - wie etwa die Ikonographie, die verwendete
Handschrift, den politisch-geographischen Gehalt, die Heraldik - zu je eigenen
Datierungen führen. Wie bei einem anständigen Mordfall ist die Fülle der
Tatsachen so groß, ihre Struktur so inkonsistent, daß alle Hypothesen auf ihre
Weise wohlbegründet sind. Zur Frage der Autorenschaft gehen die Meinungen
ebenfalls weit auseinander. Die einen nehmen Gervasius von Tilbury (etwa 1152
bis 1239
19 ) als den Urheber an. Andere trauen dies den Mönchen
norddeutscher Klöster zu. Weil die Verführerin, die - auf der Ebstorfkarte sogar
bärtige - Schlange, beiden Ureltern im Paradies je einen Apfel gibt
(Abb.
5) , in die auch beide zu beißen im Begriffe sind, könnten auch
Frauen an der Konzeption der Karte mitgewirkt haben:
20 schließlich wird Eva damit ja erheblich von der
Anzettelung zur Erbsünde entlastet. Nur eines scheint klar: die
Ebstorferin muß im Norddeutschen entstanden sein. Anders läßt sich die enorme
Präzision der Gegend um Lüneburg, gleichsam als Blick durch die Lupe, wodurch
Lüneburg (und Braunschweig) ebenso groß wie Rom, Jerusalem oder (man verzeihe
dies einem Autor aus eben dieser Gegend) gar das Paradies verzeichnet, nicht
erklären. In der Tat verzerrt die Bedeutungsperspektive auf Norddeutschland die
Darstellung der ganzen Welt extrem. Wegen der stark überproportionalen
Germania-Partie ist das Mittelmeer so weit in Richtung Süden verzerrt und
vergrößert, daß die Ägäis-Inseln Kreta, Delos, Carpatos und alle neun Äolischen
Inseln nun wegen Platz-Überangebots sogar gleich zweimal verzeichnet
sind.
21 So etwas geschieht natürlich nicht ohne triftigen
Grund. Armin Wolf
22 macht aus den Fragen nach Täter und Tatzeit einen
veritablen Krimi, er abduziert
23 Zeit und Ort auf eine Weise, daß es Peirce, Poe oder
Conan Doyle eine Freude gewesen wäre. Die Unwahrscheinlichkeit, die Entstehung
der Karte wegen der Vielzahl von Zufälligkeiten überhaupt auf eine bestimmte
Jahreszahl festmachen zu können, wird bei Wolf zur Lösung des Problems. Allein
das Jahr 1239 erklärt zwanglos alle Seltsamkeiten ihrer Darstellung und ihres
politisch-geographischen Gehalts, und unter schwerem Verdacht der Täterschaft
steht der Ebstorfer Probst Gervasius - alias Gervasius von
Tilbury.
24 Das Vorhandensein von
fünfundsiebzig Orten speziell des römisch-deutschen Reiches, die Wolf auf der
Ebstorfkarte ausmacht, und von solchen, die gerade nicht verzeichnet
sind, bietet ihm den Schlüssel. Wolf nimmt zunächst an, die Karte sei während
der Regierungszeit Herzog Ottos des Kindes entstanden, dem Herzog von
Braunschweig und Lüneburg, also zwischen 1230 und 1250, einer gängigen
vorläufigen Datierung. Die Residenzen seiner Verwandtschaft sind samt und
sonders vorhanden, mit Ausnahme der Sitze der Wittelsbacher und der Zähringer,
die bei Otto deshalb in Ungnade gefallen waren, weil sie nach seiner Macht und
seinem Erbe - Braunschweig - griffen und ihn beinahe um beides gebracht hätten.
Dieses Vorhandensein von fünfundsiebzig bestimmten weltlichen Orten sowie die
Tatsache der Abwesenheit anderer ansonsten durchaus wichtiger Ortschaften paßt
präzise auf die räumliche Verteilung der Verwandten Ottos des Kindes, und zwar
nicht nur bezogen auf irgendeinen Abschnitt seiner Regierungszeit, sondern genau
zum Jahr 1239 mit allen in diesem Jahr lebenden Familienangehörigen - bis auf
die, die ihm politisch zu nahe getreten waren. Wolf macht dann noch die Probe
aufs Exempel: keine andere Herrscherperiode liefert solche signifikanten
Übereinstimmungen wie die des Jahres 1239. Weitere Indizien sprechen für
die Wolfsche Hypothese, wenn man sie nun noch um die Urheberschaft Gervasius von
Tilburys anreichert. Das ikonographische Programm der Karte zeigt Braunschweig,
kaum überraschend, mit dem Löwen (Abb.
6) , ganz ungewöhnlicherweise aber auch Rom (Abb.
7) , statt die Kaiserstadt mit der Wölfin zu zieren. All dies läßt
sich nun deuten als eine zeitgenössische Propaganda, die Otto das Kind für die
römisch-deutsche Kaiserkrone vorschlägt, was auch tatsächlich im Gespräch und im
Interesse Gervasius' gewesen war. Weitere, nicht minder atemberaubende,
Deutungen ergeben sich aus den Hypothesen 1239 und Gervasius von Tilbury, etwa
eine Aufforderung zum Kreuzzug, herauszulesen aus den exklusiv bekreuzten
Bildsignaturen zu Ebstorf, Lüneburg, Köln, Aachen, Konstantinopel und
Jerusalem. Natürlich bleibt dies in der
Gemeinde der Forscher nicht unumstritten. Vor allem ikonographische und
paläographische Argumente sprechen für eine spätere Ausführung. So deutet sich
eine Synthese an, die die Konzeption auf das Jahr 1239 und die Ausführung, die
möglicherweise sogar eine frühe Kopie eines verlorenen Vorbildes sein könnte,
auf das Ende des 13. Jahrhunderts legt. Asien heißt nach einer Königin
desselben Namens. Seine erste Region von Osten her ist das Paradies, ein
lieblicher und rundum angenehmer Ort, für Menschen nicht bewohnbar und mit einer
himmelhohen Feuerwand umgeben. Darin befindet sich das Holz des Lebens, d.h. ein
Baum, wer von dessen Frucht ißt, altert nicht und stirbt nie. Ebstorfer
Weltkarte, oben in der Mitte, direkt beim Paradies Ein faszinierender Aspekt
solcher Welt-Bilder wie der Ebstorfer Weltkarte liegt im Nebeneinander
verschiedener Ebenen, wie etwa der Geographie und der Theologie, der politischen
Verhältnisse, Flora und Fauna, Erzählungen zu berühmten Persönlichkeiten wie
Alexander dem Großen oder der Kartographie und Ethnologie, wie wir Heutigen nach
der uns vertrauten Ein-Ordnung der Dinge in Fakultäten und Disziplinen diese
Ebenen nennen würden. Dieses Nebeneinander war eine durchaus legitime
Ordnungsstruktur des Mittelalters, wobei Ordnung selbst, also eine je
spezifische Relation zwischen Einzeldingen, sich durch das kennzeichnende
Merkmal der Ähnlichkeit zu erkennen gibt. »Die convenientia : ist
eine mit dem Raum in der Form des unmittelbar Benachbarten verbundene
Ähnlichkeit. Sie gehört zur Ordnung der Konjunktion und der Anpassung. [...] So
bildet durch die Verkettung der Ähnlichkeit und des Raumes, durch die Kraft
dieser Konvenienz, die das Ähnliche in Nachbarschaft rückt und die nahe
beieinander liegenden Dinge assimiliert, die Welt eine Kette mit sich selbst,«
so beschreibt Michel Foucault (1974: 47-48) einen charakteristischen Zug
mittelalterlicher Wissensordnung.
25 In unserem Falle wird sie durch die wechselseitig zu
bestimmende Lage der Bildsignaturen sehr hübsch augenfällig. Die Einheit des
Leibes Christi mit der ganzen Welt etwa, eine Nachbarschaft, wie sie nicht
unmittelbarer sein könnte, fällt unter diesen Zug der Zeit, ebenso wie die
kurios anmutende Verortung eines utopischen Ortes wie dem des Paradieses
zwischen China und Indien, und dies wohl nicht nur im übertragenen Sinne,
sondern durchaus gewußt als zwar tatsächlich dort, aber wegen der »himmelhohen
Feuerwand« (Abb.
5) nicht zu erreichen: Eintritt verboten wegen
Sündenfalls! Was hier auf den ersten Blick
aussehen mag wie geradezu kindliche Naivität der Früheren, ist wohl doch eben
ein typisches Beispiel einer mittelalterlichen Wissensordnung des Nebeneinander,
einer convenientia , von nach jetzigen Maßstäben vernünftigerweise
sauber zu Trennendem, etwa in unsere Kategorien des Utopischen einerseits und
des trotz aller Seltsamkeit doch Möglichen andererseits. Michel Foucault zu
diesem Paar etwas anderer Orte, so wie wir Heutigen sie kennen und
wissen: Es gibt zum einen die Utopien. Die
Utopien sind die Plazierungen ohne wirklichen Ort: die Plazierungen, die mit dem
wirklichen Raum der Gesellschaft ein Verhältnis unmittelbarer oder umgekehrter
Analogie unterhalten. Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der
Gesellschaft: jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume. Es gibt gleichfalls - und das wohl
in jeder Kultur, in jeder Zivilisation - wirkliche Orte, wirksame Orte, die in
die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen
Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die
wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten
und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie
tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle
Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im
Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien. (Foucault 1991: 68) Das von wenigen Generationen vor
uns durchlebte Zeitalter des Rationalismus zwingt uns zu wissen, daß Utopia ein
Ort ist, der nicht nur sehr schwer zugänglich ist, sondern den es trotz unserer
Sehnsucht nach ihm angeblich nicht gibt . Für die
Unerträglichkeiten des Tatsächlichen haben wir nun nur die Heterotopien: die
Illusionsheterotopien etwa in Form der Ferienanlagen oder anderer
Freizeit-Enklaven (»Klein-Michel möchte aus dem Kinderparadies abgeholt werden!«
erschallt es ganz paradox gelegentlich in »unmöglichen Möbelhäusern«) - aber
auch die der Kehrseiten: die Abweichungsheterotopien: die Altersheime,
Krankenhäuser, Friedhöfe, die Wegschließorte für Andersartige und
Straffällige. Auf der Ebstorfkarte gibt es am
rechten Rand der Welt, in der Gegend, die wir heute Nord- und Zentral-Afrika
nennen, solche Orte - ganze unselige Landstriche: »Es hat dort vielerlei
unzugängliche Gebiete und darin unbekannte, unglaubliche Tiere und abartige
Geschöpfe,« heißt es z.B. zu Äthiopien. Oder man kann Wesen erkennen,
eingekerkert wie in Einzelhaft zwischen Gebirgszügen (Abb.
8) , die, vom Heile Christi unerlöst, an schrecklichen Mißbildungen
leiden. Es fehlen ihnen die Ohren oder die Zungen; andere haben gleich zwei Paar
Augen im Gesicht oder »zusammengewachsene Münder mit dermaßen weit vorstehenden
Lippen, daß sie sich damit gegen die Sonne schützen können,« und wieder andere,
»die Artobatitae, pflegen beim Gehen vorüberzukippen« und »die Himantopedes
bewegen sich immer wie Vierfüßer voran.« Es mag beruhigend gewesen sein, solche
Erdenbewohner sehr weit weg von sich wähnen zu können. Himmlische und höllische Orte
waren noch auf derselben Erde wie die Menschen. Es wäre zwar unendlich
beschwerlich und gefährlich gewesen, sie zu besuchen, doch kein Rationalismus
der Moderne hat sie damals mit seiner symbolischen Ordnung durch Verbannung ins
Reich des Unmöglichen als Kinderglauben denunziert. Hat sie schon versucht
anzurufen? Es ist so, daß den Medien, auch
den technischen, die Geister erscheinen.
27 Die Photographie hat Verstorbene in Gestalt ihrer Aura
fixiert, der Computer reproduziert verblichene Kunstwerke bitweise. Unsere Versuche zum Thema des
Computers als Medium jedenfalls
28 begannen mit der Ebstorferin, als es sie schon lange
nicht mehr gab. Unserer virtuellen Zerteilung und Zusammensetzung ging Ähnliches
mit ihr voraus, mit letalem Ende: Nach Auffindung des Originals um
das Jahr 1830 gaben die Klosterfrauen sie 1834 dem "Vaterländischen Archiv" und
dem Historischen Verein in Hannover, und zwar zwecks Ausstellung, sachgemäßer
Lagerung und später auch Herausgabe im Druck. Sie wurde dann schließlich
zerteilt, auf Rahmen gespannt, photographiert und in ein Gestell gesteckt, das
nicht wesentlich anders ausgesehen haben mag als heutige digitale
Massenspeicher. Als das Kloster etwa ein Jahrhundert nach dessen Hergabe ihr
Schmuckstück zurückforderte, wollten die Nazis spezielle Gesetze erlassen, die
den rechtmäßigen Anspruch der Ebstorferinnen entkräftet hätten, um sie so nicht
wieder zurückgeben zu müssen. Den unwürdigen Querelen, wer denn nun die
Verfügungsgewalt über sie habe, entzog sich die große Ebstorferin in der Nacht
vom 8. auf den 9. Oktober 1943 durch Verbrennen im Bombenhagel der Alliierten,
aufbewahrt im bombensicheren Gewölbe des Hannoverschen Staatsarchivs
29 . Sie existiert seitdem nur noch
in Reproduktion: nach den schwarzweißen Sommerbrodtschen Lichtdrucktafeln in
halber Größe
30 sind Nachbildungen auf Pergament entstanden: drei
hängen in Originalgröße im Kloster Ebstorf, im Museum für das Fürstentum
Lüneburg und auf der Plassenburg in Kulmbach. Vor den beiden letztgenannten ist
unsere Computerfassung installiert worden, in schwarzweiß beziehungsweise in
Farbe, den Fortschritt der Technik nachzeichnend, als vorläufig letzte
Fälschungen des untergegangenen Originals. Wenn die geneigten Leser nicht extra
dort hingehen wollen, was sie aber der sehr schönen Pergament-Replikation wegen
tun sollten, können sie auch eine Cyberspace-Version mittels ihres Web-Browsers
auf ihren Rechnerschirm beschwö&endash;ren.
31 Was man dann sehen kann, ist ein
Faksimile des Kartenbildes in einundachzig Segmenten, auf dem alle Textfragmente
in Transkription und deutscher Übersetzung des Altgermanisten Hartmut
Kugler
32 zu lesen sind, versehen mit einem Index und in
effigie präsent wie nur je zuvor. Die Abbildungen und alle Textfragmente,
die diesen Text begleiten, entstammen dieser digitalen
Wiederauferstehung. Daß mit einer Technologie, die
die Ära des Buches als unbestrittenes Leitmedium beendet hat, wieder lesbar
wird, was lange vor der Erfindung des Buchdrucks geschrieben wurde, ist kein
Zufall. Die massenhafte Verbreitung des Buchs als Medium infolge der
Gutenbergschen Erfindung prägte dem Diskurs die Struktur der verschriftlichten
Rede auf,
33 einer Rede, die etwa in der (Vor-)Lesung auch
tatsächlich stattfindet und beim leisen Lesen innerlich geschieht, jedenfalls
eindeutig das geschriebene Dokument mit gesprochener Sprache verknüpft.
Elektronische Dokumente - Hypertexte - ergeben keinen verbindlichen Lesefluß
mehr. Man kann sie nicht vorlesen, was man übrigens auch bei den Comic Strips
nicht kann, die gefährlich an der Buch- und Lesekultur nagen, wie besorgte
Eltern immer wieder feststellen. Genau so ist es mit diesem wundervollen
mittelalterlichen Cartoon auf Pergament bestellt, zu dem es nicht nur eine
einzige isomorphe Rede gibt, sondern nur viele. Besonders schön augen- und
ohrenfällig wird dieser Sachverhalt, wenn man mehr als einer Führung im Kloster
Ebstorf beiwohnt und den beredten Erzählungen zur Weltkarte lauscht, die so
verschiedenartig ausfallen, wie es die Klosterdamen selbst sind. [1] Die weibliche Form ist im
folgenden stets inbegriffen! [2] Diese liebevolle
Bezeichnung verdanken wir m. W. Hartmut Kugler. [3] Wolf, A.: "Ikonologie der
Ebstorfer Weltkarte und politische Situation des Jahres 1239. Zum Weltbild des
Gervasius von Tilbury am welfischen Hofe", in [
4 ], S. 54-116. [4] Kugler, H. (Hrsg.) (1991):
Ein Weltbild vor Columbus - Die Ebstorfer Weltkarte . Weinheim: VCH
Verlagsgesellschaft mbH. [5] Ruberg, U.: "Die Tierwelt
auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik, in
[
4 ], S. 319-346. [6] Clausberg, K.: "Scheibe,
Rad, Zifferblatt. Grenzübergänge zwischen Weltkarten und Weltbildern", in
[
4 ], S. 260-313. [7] Warnke, M. (1990): "Das
Thema ist die ganze Welt: Hypertext im Museum", in: Gloor, P.A. und Streitz,
N.A. (Hrsg.): Hypertext und Hypermedia. Informatik-Fachberichte 249 ,
268-277. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag. [8] Eine Zusammenfassung des
Forschungsstandes findet man in [
4 ]. [9] Michael, E.: "Das
wiederentdeckte Monument - Erforschung der Ebstorfer Weltkarte,
Entstehungsgeschichte und Gestalt ihrer Nachbildungen", in [
4 ], S. 9-22. [10] Kugler, H. (1987): "Die
Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter."
Zeitschrift für deutsches Altertum 116.1: 1-29. [11] Kugler, H.:
"Abschreibfehler. Zur Quellenproblematik der Ebstorfer Weltkarte", in [
4 ], S. 347-366. [12] Natürlich drängt sich dem
moderneren inneren Auge auch das Bild eines globalen Hamburgers auf. [13] Wolf, A.: "Ikonologie der
Ebstorfer Weltkarte und politische Situation des Jahres 1239. Zum Weltbild des
Gervasius von Tilbury am welfischen Hofe", in [
4 ], S. 54-116. [14] »Und die Welt, das ist
der Mensch.« Leibniz, nach [
13 ], Fußnote 188. [15] Siehe etwa [
6 ]. [16] "Ardistan und
Dschinnistan" ist der Gegenstand der Untersuchung in Schmidts Analyse Karl
Mayscher Erfolgsliteratur (in [
17 ]). [17] Schmidt, A. (1988):
"Reiten, Reiten, Reiten... - Eine Massenwirkung und ihre Gründe", in: Zur
Deutschen Literatur 3, 242-256. Zürich: Haffmanns Verlag, S. 246. [18] In [
3 ], S. 55. [19] In [ 3
], S. 94. [20] Hahn-Woernle, B.: Die
Ebstorfer Weltkarte . Kloster Ebstorf: ohne Jahresangabe, S. 52. [21] Vgl. in [ 11
], S. 362 f. [22] Siehe [
3 ]. [23] Siehe dazu etwa Sebeok,
Thomas A. und Jean Umiker-Sebeok (1982): Du kennst meine Methode - Charles
S. Peirce und Sherlock Holmes . Deutsch von Achim Eschbach, Frankfurt am
Main: Suhrkamp. Hier wird unter Abduktion verstanden ein "einzigartiger Salat
[...], dessen wichtigste Ingredienzen in seiner Grundlosigkeit, seiner
Allgegenwart und seiner Zuverlässigkeit bestehen." (S. 32). Abduktion suche nach
Theorien, Induktion nach Tatsachen. [24] Siehe [
3 ]. [25] Foucault, M. (1974):
Die Ordnung der Dinge . Deutsch von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main:
Suhrkamp. 1966: Let mots et les choses . [26] Foucault, M. (1991):
"Andere Räume", in: Wentz, M. (Hrsg.): Stadt-Räume . Frankfurt/New
York: Campus-Verlag, S. 65-72. [27] Kittler, F. (1986):
Grammophon Film Typewriter . Berlin: Brinkmann & Bose. S.21
ff. [28] Vgl. [
7 ] sowie Warnke, M. (1991): "A World in
a Nutshell: The Project EbsKart", in: Marker, J. (Hrsg.): AHC '91: History
and Computing . Odense, Odense University Press, Warnke,
M. (1992): "Der Computer als Medium für selbstbestimmtes Lernen: ein
Praxisbeispiel aus dem Museumsbereich" in: Computer & Unterricht ,
2.5, 27-31, Warnke, M. (1997): "Digitale Schreibzeuge", in:
Kohle, H. (Hrsg.): Kunstgeschichte digital . Berlin: Dietrich Reimer
Verlag, S. 171-191. [29] Brosius, D.: "Die
Ebstorfer Weltkarte von 1830 bis 1943", in [
4 ], S. 23-40. [30] Sommerbrodt, E. (1891):
Die Ebstorfer Weltkarte . Hannover, mit einem Atlas von 25
Lichtdrucktafeln. [31] http://www.uni-lueneburg.de/EbsKart/ [32] Vielen Dank dafür noch
einmal auch an dieser Stelle. [33] Siehe dazu Illich, I.
(1991): Im Weinberg des Textes - Als das Schriftbild der Moderne
entstand . Deutsch von Ylva Eriksson-Kuchenbuch, Frankfurt am Main:
Luchterhand. Dort beschreibt er (S. 101 ff), wie durch den Buchdruck das
mönchische Lesen vom akademischen abgelöst wurde. Foucault, Michel (1974):
Die Ordnung der Dinge . Deutsch von Ulrich Köppen. Frankfurt am Main:
Suhrkamp. 1966: Let mots et les choses . Foucault, Michel (1991):
"Andere Räume", in: Wentz, M. (Hrsg.): Stadt-Räume . Frankfurt/New
York: Campus-Verlag, S. 65-72. Gibson, William (1990): Der
Wintermarkt, in: Cyberspace . S. 148-176. München: Heyne Verlag. 1986:
The Winter Market . Hahn-Woernle, Birgit: Die
Ebstorfer Weltkarte . Kloster Ebstorf: ohne Jahresangabe, S. 52. Illich, Ivan (1991): Im
Weinberg des Textes - Als das Schriftbild der Moderne entstand . Deutsch
von Ylva Eriksson-Kuchenbuch, Frankfurt am Main: Luchterhand. Kittler, Friedrich (1986):
Grammophon Film Typewriter . Berlin: Brinkmann & Bose. S.21
ff. Kugler, Hartmut (1987): "Die
Ebstorfer Weltkarte. Ein europäisches Weltbild im deutschen Mittelalter."
Zeitschrift für deutsches Altertum 116.1: 1-29. Kugler, Hartmut (Hrsg.) (1991):
Ein Weltbild vor Columbus - Die Ebstorfer Weltkarte . Weinheim: VCH
Verlagsgesellschaft mbH. Schmidt, Arno (1988): "Reiten,
Reiten, Reiten... - Eine Massenwirkung und ihre Gründe", in: Zur Deutschen
Literatur 3, 242-256. Zürich: Haffmanns Verlag. S. 246. Sebeok, Thomas. A. und Jean
Umiker-Sebeok (1982): Du kennst meine Methode - Charles S. Peirce und
Sherlock Holmes. Deutsch von Achim Eschbach, Frankfurt am Main:
Suhrkamp. Sommerbrodt, Ernst (1891):
Die Ebstorfer Weltkarte . Hannover, mit einem Atlas von 25
Lichtdrucktafeln. Warnke, Martin (1990): "Das
Thema ist die ganze Welt: Hypertext im Museum", in: Gloor, P.A. und Streitz,
N.A. (Hrsg.): Hypertext und Hypermedia. Informatik-Fachberichte 249 ,
268-277. Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag. Warnke, Martin (1991): "A World
in a Nutshell: The Project EbsKart", in: Marker, J. (Hrsg.): AHC '91:
History and Computing . Odense, Odense University Press. Warnke, Martin (1992): "Der
Computer als Medium für selbstbestimmtes Lernen: ein Praxisbeispiel aus dem
Museumsbereich" in: Computer & Unterricht , 2.5, 27-31. Warnke, Martin (1997):
"Digitale Schreibzeuge", in: Kohle, H. (Hrsg.): Kunstgeschichte digital
. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, S. 171-191. Wiener, Oswald (1985), Die
Verbesserung von Mitteleuropa, Roman . Reinbek: Rowohlt. Abb.
1 : Die Ebstorfer Weltkarte.
Abb.
2 : Ein kleines Bestiarium in Nordafrika.
Abb.
3 : Das himmlische Jerusalem am Nabel der Welt. Christus ist
west-östlich orientiert.
Abb.
4 : Das Haupt Christi ganz im Osten.
Abb.
5 : Adam, Eva, die Schlange und der Baum der Erkenntnis im
Paradies.
Abb.
8 : Unerlöste Wesen im tiefen Süden, nord-südlich
gelagert.
|
|
|